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RADIKALER KONSTRUKTIVISMUS

Auch auf die Gefahr hin, Eulen nach Athen zu tragen oder Altbekanntes zu wiederholen: Für mich stellt der radikale Konstruktivismus einen nützlichen Wegweiser für Beratung/Therapie dar. Ich verstehe die Grundidee des radikalen Konstruktivismus so, dass «wir» keinen «direkten Zugang» zu der «Welt da draußen» haben, sondern dass dieser durch das uns eigene Nervensystem vermittelt wird. Anders gesagt – niemand vermag zu sagen, wie die «Welt da draußen» wirklich ist.

Alles, wozu wir imstande sind, ist, zu beschreiben, wie wir uns diese Welt für uns konstruieren. Nicht mehr und keinesfalls weniger.

Beziehe ich diese Aussage – die gemäß der Idee des radikalen Konstruktivismus zunächst nur für mich Gültigkeit besitzt – auf meinen beraterisch-therapeutischen Kontext, so sage ich, dass ich das, was ich mir zugestehe – «meine Konstruktion von Welt» –, auch den anderen zugestehen sollte – ihre Konstruktion der Welt. Das habe ich für meinen professionellen Kontext so übersetzt:

These 1: Konstruktionen «sind» gleich (oder: gleichermaßen) gültig.
Wenn nun Menschen die «Welt da draußen» unterschiedlich konstruieren, dann beruhen solche Unterschiede auf anderen Wahrnehmungen, anderen Gründen, anderen Präferenzen. Daraus leite ich für meinen beraterisch-therapeutischen Kontext eine weitere Wegmarkierung ab:

These 2: Jede Konstruktion «hat» gute Gründe. Unterschiede beruhen nach diesem/meinem Verständnis auf unterschiedlichen Konstruktionen und die jeweilige Konstruktion wurde auf der Basis guter Gründe errichtet.
Diese Annahmen haben mir zu einer weiteren klaren Position verholfen:

These 3: Im beraterisch-therapeutischen Kontext macht es wenig Sinn, über die Richtigkeit oder Angemessenheit der jeweiligen (unterschiedlichen) Konstruktionen zu debattieren. Einfach weil ich These 1 als Basis nehme.
Das bedeutet nun allerdings nicht, anderen Konstruktionen zuzustimmen, denn die Verantwortung – und die sich daraus ergebenden Optionen – gehören in den Verantwortungsbereich derjenigen Person, die diese Konstruktion hervorgebracht hat.

These 4: Jede Konstruktion hat Konsequenzen. Im beraterisch-therapeutischen Kontext leuchtet mir dies unmittelbar ein, wenn Personen ihr Leid beschreiben – sie leiden unter den Konsequenzen, die sie als nicht (oder wenig/er) wünschenswert beschreiben. Anders gesagt: nach meinem Verständnis geht es in einem beraterisch-therapeutischen Kontext darum, über das Wünschenswerte (oder nicht Wünschenswerte) der Konsequenzen der jeweiligen Konstruktion ins Gespräch zu kommen. Das zieht in meinen Augen eine weitere, wichtige Unterscheidung/Wegmarkierung nach sich:

These 5: Ich unterscheide zwischen respektieren und akzeptieren. Dies bedeutet für mich, die Person und deren (andere) Konstruktion/Weltsicht auf jeden Fall zu respektieren – und dieses respektieren bedeutet keinesfalls, die (andere) Konstruktion/Weltsicht deshalb auch akzeptieren zu müssen. Damit ist für mich ein (hilfreicher) Rahmen gerahmt: Im beraterisch-therapeutischen Kontext dreht es sich nicht darum, über Konstruktionen ins Gespräch zu kommen, sondern darum, Konsequenzen solcher Konstruktionen respektvoll zu erörtern und hinsichtlich des Wünschenswerten (auch im gegebenen sozialen Rahmen/Kontext) aus unterschiedlichen Perspektiven zu untersuchen. Ein solches Verständnis knüpft für mich am systemischen wie am lösungsorientierten Ansatz an.

Zum Systemischen Ansatz

Mein Verständnis von systemisch, so wie es sich aus der Zusammenarbeit und aus Diskussionen mit Armin Albers ergeben hat, lautet: Systemisch verstehe ich als eine Einladung zur BeobachterIn eines Geschehens zu werden aus unterschiedlichen Perspektiven. Das bedeutet zumindest dreierlei:
– ein System wird von seiner Umgebung unterschieden
– ein System wird (von mehreren Personen) beobachtet, die unterschiedliche Beobachtungs-Perspektiven einnehmen (können).

Und all dies wird in Sprache beschrieben und benannt. Wenn ich «systemisch» als eine solche Einladung beschreibe, dann impliziert dies für mich, dass mein Gegenüber (die Person, die ich eingeladen habe), meine Einladung nicht unbedingt, zwangsläufig und in jedem Fall annehmen muss. Er/sie darf auch «nein!» dazu sagen – ein Zeichen von Autonomie, wie ich glaube.

Und was hat das mit «lösungsorientiert» zu tun?

Wenn ich die Praxis beraterisch-therapeutischen Handelns – wie geschehen – als eine Form des Dialogs verstehe, Konsequenzen solcher (für mein Gegenüber eher leidvollen) Konstruktionen respektvoll zu erörtern und hinsichtlich des Wünschenswerten (auch im gegebenen sozialen Rahmen /Kontext) aus unterschiedlichen Perspektiven zu untersuchen, dann ist damit nach meinem Verständnis das Thema Ziel, Vision oder Lösung angesprochen – ein bzw. das Kernstück lösungsorientierten Arbeitens. Insofern begreife ich beraterisch-therapeutisches Arbeiten auf der Grundlage des radikalen Konstruktivismus immer als eine Form lösungsorientierten Handelns.

Jürgen Hargens, Diplom-Psychologe, klinischer Psychotherapeut

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