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Gewusst wie, gewusst warum

Textauszug aus: Schlippe, A.v., Schweitzer, J. (2019). Gewusst wie, gewusst warum. Die Logik systemischer Interventionen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, Kap. 1

Der systemische erkenntnissuchende Blick versucht nicht mehr, feste Fakten herauszubekommen, er sucht nicht nach etwas, das es „gibt“, sondern eher nach dem, was zwischen den Menschen wirksam ist, nach den Mustern flüchtiger Kommunikationen, die wir in den Prozessen ständig neu erzeugter zwischenmenschlicher und psychischer Realitäten beobachten können. Ganz explizit verschiebt etwa die Systemtheorie von Niklas Luhmann die Frage vom System als einem Objekt auf die Frage, wie es sich mit der Differenz zwischen System und Umwelt verhält (Abschnitt 2.3.1). Man schaut also auf den Vorgang der Unterscheidung, nicht auf ihr Ergebnis. Damit ist aber immer ein Beobachter vorausgesetzt, der die Welt aktiv erkennt: „Es gibt keine beobachtungslose Welt […]. Wir brauchen nicht mehr zu wissen, wie die Welt ist, wenn wir wissen, wie sie beobachtet wird“ (Luhmann, 2004, S. 139 ff.). Eine solche Sicht verändert übrigens auch den Umgang mit psychiatrischen Diagnosen, wie derselbe Autor an anderer Stelle betont: „[W]enn man wissen will, was ‚pathologisch‘ ist, muss man den Beobachter beobachten, der diese Beschreibung verwendet, und nicht das, was so beschrieben wird“ (Luhmann, 2009, S. 216).

Immer deutlicher wurde, dass die Familientherapie und die in ihrem Rahmen entwickelten Theorien und Methoden, über die man sich Mehrpersonensysteme erschließen kann, in eine andere Logik hineinführt, in eine, die viel mit der Frage zu tun hat, was unser psychosoziales Leben eigentlich genau ausmacht. So kann man nach Problemen wie nach einem „Ding“ fragen, das „ist“: „Seit wann haben Sie ‚es‘?“; „Wann ist ‚es‘ das erste Mal aufgetreten?“; „Hat die Zahl der Schübe zugenommen?“ usw. Diese Sichtweise wird Beobachtung erster Ordnung genannt, manchmal auch „essenzialistisch“, weil nach der „Essenz“, dem wahren Wesen eines Phänomens gesucht wird. Wenn man Probleme jedoch als etwas sieht, was im „Dazwischen“ geschieht, wird man ganz anders fragen, nämlich nach Perspektiven von Beobachtern. Damit bewegt man sich dann in der Beobachtungsebene zweiter Ordnung (Unterkapitel 3.10). Man fragt etwa Fragen wie: „Wer hat das, was Sie als Problem beschreiben, zum ersten Mal so benannt?“; „Wer sieht es ähnlich, wer anders?“ (zur Unterscheidung der Kybernetik erster und zweiter Ordnung ausführlich: Simon, Clement u. Stierlin, 2004, S. 192 ff.)

Eine kleine Illustration dazu: In meiner Ausbildung hatte ich (AvS) mehrfach psychiatrische Vorlesungen mit Patienteninterviews gehört. Sie begannen vielfach mit der Diagnose: „Sie haben also eine Depression. Hmm, wann ist denn die Symptomatik zum ersten Mal aufgetreten?“ oder: „Seit wann haben Sie die Depression?“ o. ä. Diese Art Frage sucht nach der Natur der Dinge. Ich erinnere mich noch gut an meine Verblüffung, als ich das erste Mal in einem Interview in einem Lehrvideo (leider weiß ich nicht mehr, wer der Interviewer war) auf die Klage des Klienten, er habe eine Depression, die Frage hörte: „Ah ja, und woher wissen Sie das?“ Die Fokusverschiebung liegt auf der Hand: Es wird nicht mehr nach dem „Ding“ Depression gefragt, sondern nach der Art der Beschreibung, die dazu führt, dass ein Komplex aus Erleben, Verhalten und sozialer Interaktion von jemandem mit einem Begriff belegt wird – und getreu der Devise von Ludwig Wittgenstein, wonach alles, was wir sehen und alles, was wir beschreiben können, auch anders sein könnte (These 5.634 aus dem „Tractatus“, Wittgenstein, 1921/1968, S. 91), kann man mit einer solchen Einstiegsfrage beginnen, nach Unterschieden zu fragen: Wer stimmt der Beschreibung zu, wer nicht, und welche Beschreibung wählt der, der nicht zustimmt? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus?

Die Konsequenzen einer solch anderen Sicht sind durchaus beachtlich, etwa wenn es um das Verständnis psychischer „Krankheiten“ geht. Diese nicht als etwas Vorgegebenes, sondern beobachterabhängig zu verstehen bedeutet, dass man danach sucht, in welchen komplexen sozialen Beschreibungsmustern und -traditionen sich die Phänomene bewegen, die als psychische „Krankheiten“ bezeichnet werden – und diese Beschreibung dann als eine Möglichkeit neben vielen anderen möglichen Beschreibungen zu sehen. Ein solcher Zugang, vielfach als hilfreich und im positiven Sinn anders erlebt, bringt die systemische Therapie in viele Paradoxien, wenn sie sich mit den Methoden einer Wissenschaft beurteilen lassen muss, deren erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Wurzeln ganz anders aussehen.[1] Auch wenn der systemischen Therapie die Anerkennung als wissenschaftliches Verfahren zugesprochen wurde, bleibt das Verhältnis doch schwierig, was man daran ablesen kann, wie lange es nach der wissenschaftlichen Anerkennung noch dauerte, bis diese Art des Zugangs auch im Rahmen der Gesundheitsversorgung in unserem Land zugelassen wurde (nämlich erst 2018, mehr als zehn Jahre später).

Zugleich, und das ist ein auffallender Kontrast, ist der systemische Ansatz in der Praxis nach wie vor stark nachgefragt, das Interesse geht hier weit über die Psychotherapie hinaus (Oestereich, 2013). Eine große Zahl von Ausbildungsinstituten verzeichnet ungebrochen reges Interesse an Ausbildungen in systemischer Therapie, Beratung, Coaching, Supervision. Offenbar gibt es einen großen Bedarf, mit der Komplexität kommunikativen Geschehens umzugehen, die verwirrende Vielfalt unterschiedlicher Perspektiven zu handhaben, mit der man konfrontiert ist, sobald man mit mehr als einer Person zu tun hat (und das hat man in der Regel auch dann, wenn nur eine Person im Sprechzimmer sitzt). Das gilt für innerfamiliäre Konflikte und ihre Entstehung, die sich oft über Generationen hinweg rekonstruieren lassen, und das gilt genauso für Konflikte in Teams, Gruppen und Organisationen.

Im Gefolge dieser erfreulich großen Nachfrage kann man aber auch eine unerfreuliche Entwicklung beobachten: die Inflationierung des Begriffs „systemisch“ und damit auch eine Trivialisierung systemtheoretischer Überlegungen: „Die über das ‚Systemische‘ in die Gesellschaft getragene Systemtheorie ist inzwischen Opfer ihres eigenen Erfolges geworden. Inzwischen wird alles mit dem Begriff … geschmückt … Es gibt ‚systemisches Gesundheitscoaching‘, ‚systemische Supervision’, ‚systemisches Mentoring’, ‚systemische Burn-Out-Prophylaxe’, ‚systemisches In- und Outsourcing’, ‚systemische Schulpädagogik’, ‚systemisches Sozialmanagement’, ‚systemisches Innovationsmanagement’, ‚systemische Personalentwicklung’, ‚systemische Hundeerziehung’, ‚systemische Heimerziehung’ und ‚systemisches Führen mit Pferden’. Es scheint keine Expansionsgrenzen für das Adjektiv ‚systemisch’ mehr zu geben, die Durchsetzung der Substantivformen ‚Systemik’ oder ‚Systemiker’ ist nur noch eine Frage der Zeit. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass es bald das Verb ‚systemiken’ oder ‚systemisieren’ geben wird“ (Kühl, 2015, S. 333). So steht der Begriff in Gefahr, so weit zu verschwimmen, dass er unbrauchbar wird.

Bedenklich ist es u.E. auch, wenn man sich im Zuge der Popularisierung und Inflationierung dessen, was als systemisch verstanden wird, auf „systemische Werkzeugkästen“ begrenzt. „Tools“ sind derzeit hoch im Kurs. Die „Komplexitätsvergessenheit“, die Armin Nassehi (2017, S. 19 f.) beklagt, ist durchaus ein Thema für die systemische Praxis der Gegenwart. So warnt Wolfgang Loth eindringlich: „Mein Eindruck ist, dass bei all diesen zugestandenen notwendigen, wichtigen, nachvollziehbaren Schritten auf dem Weg zur Beantragung der Anerkennung die Tools und Techniken einfach überhandgenommen haben […]. Auf der Ebene von Tools und Techniken kann meiner Meinung nach die Unterscheidung zu anderen Therapieverfahren nicht substanziell durchgehalten werden“ (Wortbeitrag im Streitgespräch Levold, Loth, von Schlippe u. Schweitzer, 2011, S. 165). Wie man eine Familien- oder Teamskulptur aufstellen lässt, ist leicht nachzuvollziehen. Auch die Mechanik einer zirkulären Frage ist von der Struktur her einfach, das Gleiche gilt für die Grundregeln des Reflektierenden Teams. Wenn sich systemische Praxis darauf begrenzt, systemische Interventionstechniken anzuwenden, fehlt jedoch eine wichtige Reflexionsebene, auf der man sich fragt, warum man so interveniert, wie man es tut.

Und genau darum soll es in diesem kompakten Band gehen: Es soll ein Rahmen angeboten werden, der die Interventionen daraufhin überprüft, auf welchen Überlegungen sie beruhen, welche theoretischen Grundlagen ihnen zugrunde liegen. Denn – und das ist die wesentlichste These dieses Buchs – nicht die Intervention erschließt die Theorie, sondern umgekehrt. Eine system(theoret)ische Sicht auf die Welt führt nahezu zwangsläufig zu Formen des Intervenierens, wie wir sie als „systemisch“ kennen.

Vor Jahren haben wir einen eher knappen Band vorgelegt, der als Ergänzung zu unseren „großen Lehrbüchern“ (von Schlippe u. Schweitzer, 2012; Schweitzer u. von Schlippe, 2006) eine erste Einführung in systemische Praxis geben und die Vielfalt systemischer Interventionen vorstellen sollte (von Schlippe u. Schweitzer, 2009). Das vorliegende Buch soll dazu dienen, den Hintergrund der dort vorgestellten Methoden auszuleuchten und nachvollziehbar zu machen sowie (system)theoretisch zu verstehen, wie und warum man in der Praxis handelt: „Gewusst wie … – gewusst warum …“


[1] Umso erfreulicher ist es daher, dass sie sich sogar in diesen Kontexten unter einer Perspektive, die nicht originär die ihre ist, durchaus als konkurrenzfähig erweist (Baumann, Haun u. Ochs, 2017; Sydow, Beher, Retzlaff u. Schweitzer, 2007).

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