© Dr. René Hess – 2025
Wer den Anspruch hat, ständig glücklich sein zu müssen, wird kläglich scheitern. Ängste, Zweifel, Schmerz, Traurigkeit und Niedergeschlagenheit, Gefühle der Einsamkeit und Verlassenheit – all das sind Bestandteile unserer menschlichen Erlebensmöglichkeiten. Ein dauerhaft angstfreies Leben ist eine Vorstellung, die mit der Realität des Daseins nicht vereinbar ist.
Innere Not entsteht dann, wenn wir von negativ bewerteten Gefühlen überwältigt werden, uns ausgeliefert und nicht mehr steuerungsfähig erleben. Dieses Ohnmachtsgefühl ist verständlicherweise sehr leidvoll. Ebenso nachvollziehbar ist das menschliche Bedürfnis nach Veränderung – nach einer Lösung. Wenn unsere eigenen Strategien nicht greifen, suchen wir möglicherweise professionelle Hilfe auf.
Biologisierung menschlicher Probleme
Hier tritt die biologische Psychiatrie auf den Plan. Sie neigt dazu, aus belastenden Gefühlen und menschlichem Leid Krankheiten zu konstruieren. Man fühlt sich dann nicht einfach niedergeschlagen, energielos, besorgt oder schuldig, sondern bekommt die Diagnose: „Sie haben eine Depression.“
Diese sogenannte Krankheit – so erklärt es die biologische Psychiatrie – sei auf gestörte Neurotransmitterprozesse im Gehirn zurückzuführen. Das subjektive Erleben wird pathologisiert und einem biologistischen Erklärungsmodell unterworfen. Die logische Konsequenz: eine biologische Intervention, meist in Form von Medikamenten, die angeblich das Gleichgewicht des Neurotransmitterhaushaltes wiederherstellen sollen.
Menschliche Probleme werden dadurch aus ihrem lebensgeschichtlichen und sozialen Kontext gerissen und zu einem rein biologischen Defekt umgedeutet. Sollten Sie als Leserin oder Leser noch nicht informiert sein: Die immer noch weit verbreitete Theorie eines „Neurotransmitterungleichgewichts“, das medikamentös ausgeglichen werden könne, ist längst überholt und wissenschaftlich widerlegt. Psychoaktive Medikamente stellen kein Gleichgewicht her – sie greifen vielmehr störend und irritierend in die natürliche Funktionsweise des Gehirns ein.
Arbeit mit Selbstanteilen
Das Modell der inneren Anteile bietet eine wertvolle Alternative zur Pathologisierung menschlichen Leidens. Es ermöglicht ein differenziertes, nicht-abwertendes Verständnis seelischer Prozesse. Statt Diagnosen zu vergeben, lädt es dazu ein, das innere Erleben als Zusammenspiel verschiedener Selbstanteile zu verstehen.
Ein Mensch ist nicht „ängstlich“ oder „depressiv“ – er erlebt innere Anteile, die Angst haben, traurig sind oder sich beschämt fühlen. Diese Sichtweise erlaubt es, mit sich selbst in einen inneren Dialog zu treten und Wege zu entdecken, wie wir unsere Steuerungskompetenz zurückerlangen können – ohne uns selbst zu bekämpfen oder zu medikalisieren.
=> Erleben Sie Dr. René Hess bei uns am Institut! Er ist Co-Leiter der Eidg. anerkannten Psychotherapieweiterbildung und gibt zudem einzelne öffentliche Workshops!