Loading...

Allgemein Blog

Wie weit kann das „sich echt anfühlen“ gehen?

Wohin führt die Digitalisierung in Beratung, Coaching und Therapie? Wie gestaltet sich Beratung künftig und wie weit könnte „sich echt anfühlen“ gehen?

Die Digitalisierung hat unser Leben grundlegend verändert. Insbesondere das Leben von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen wurde durch die digitale Revolution stark beeinflusst. Soziale Netzwerke, Multitasking, ELearning, Cybermobbing, Mental Health, Fake News, Datenschutz, Medienkompetenz sind nur ein paar Begriffe, die Ausdruck verleihen, womit wir konfrontiert sind. Während die einen die Chancen der digitalen Welt betonen, warnen andere vor den Risiken.

Die Tagung „Beraten, coachen, therapieren im Jahr 2030“ hat sich intensiv mit den Auswirkungen der digitalen Welt auf Beratung auseinandergesetzt. Namhafte Referenten, darunter Dr. Dr. Damir del Monte, Felizitas Ambauen, Dr. Gunther Schmidt, Dr. Maja Storch und Klaus Eidenschink, haben aus unterschiedlichen Perspektiven dieses komplexe Thema beleuchtet:

Damir del Monte vereint Neurowissenschaft, Psychologie und Medizin. In seinem Referat präsentiert er Forschungsergebnisse, die aufzeigen, dass Veränderungen der Lebenspraxis durch die Digitalisierung von Jugendlichen ab 2010 von herausragender Bedeutung für das signifikant gestiegene Aufkommen von psychischen Erkrankungen bei Heranwachsenden zu sein scheinen. Er spricht in seinem Referat von einer Generation Z, die in einer digitalen Welt aufwächst, die geprägt ist von Überreizung und Unter-/Überforderung. Er zeichnet ein Bild von einer Kindheit und (Er-)Leben von jungen Erwachsenen, die sich immer mehr von der physischen Welt abkoppelt und zunehmend in virtuellen Räumen stattfindet. Damir del Monte vergleicht in seinem Referat die „echte“ Welt mit der virtuellen Welt und beschreibt, wie sich diese beiden unterscheiden:

  • Die echte Welt: ist körperlich erfahrbar, synchron (Interaktionen geschehen in Echtzeit), bietet einen begrenzten Rahmen für Interaktionen und ist Teil einer stabilen Gemeinschaft.
  • Die virtuelle Welt: ist entkörperlicht, asynchron (Interaktionen können zeitlich versetzt stattfinden), kennt keine Grenzen und ist Teil einer instabilen Gemeinschaft, die sich ständig verändert.

Diese Verschiebung von der realen in die virtuelle Welt hat laut Del Monte negative Folgen:

  • Deprivation: Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene werden in ihrer Entwicklung beeinträchtigt, da sie wichtige Erfahrungen in der realen Welt verpassen.
  • Beschädigte Aufmerksamkeit: Die ständige Reizüberflutung führt zu einer verminderten Fähigkeit, sich zu konzentrieren und Aufgaben durchzuführen.
  • Schlafmangel und Sucht: Der exzessive Konsum digitaler Medien führt zu Schlafstörungen und kann süchtig machen.

Damir del Monte wirft die anregende Frage auf, wer diese digitalen Lebenswelten wie gestaltet und welche Motive dahinterstehen. Er schärft in seinem Referat das Bewusstsein für Chancen und Risiken und hinterfragt, ob die Gesellschaft ausreichend darauf vorbereitet ist, die Herausforderungen der digitalen Welt zu meistern.

Seine zentrale Botschaft: Wir müssen uns bewusst machen, welche Auswirkungen die digitale Welt auf uns und unsere Nachkommen hat und wie wir unterstützend wirken können, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der realen und der virtuellen Welt zu finden. Es ist wichtig, die positiven Aspekte der digitalen Welt zu nutzen, ohne dabei die Bedeutung der physischen Welt und sozialer Interaktionen zu vernachlässigen.

Felizitas Ambauen erreicht mit ihrem Podcast «Beziehungskosmos» (2022 und 2023 der meistgehörte Podcast auf Spotify in der Schweiz) zahlreiche Menschen. In ihrem Referat «Therapeut:in sein im TikTokZeitalter» beleuchtet die Psychotherapeutin Ambauen die Auswirkungen des digitalen Zeitalters auf die Psychotherapie. Die ständige Verfügbarkeit von Informationen und die Forderung nach sofortigen Lösungen führen zu einer zunehmenden Unruhe und einem Verlust der Fähigkeit, sich auf eine Sache zu konzentrieren. Die Unsicherheitstoleranz wird kleiner, weil man sich gewohnt ist, alles schnell googeln, kontrollieren zu können; damit wird eine (Schein)Sicherheit geschaffen und wir verlernen Unsicherheiten auszuhalten. Schwierige Emotionen werden mit Ablenkungen z.B. auf Social Media oder Trost durch Chat GPT «gelöst», Monotasking wird schwieriger und Nichts-Tun und Langeweile sind kaum noch aushaltbar.

Felizitas Ambauen beschreibt in ihrem Referat die Themen künftiger Therapie und die Rolle der Therapeut:innen, die sich verändert. Beratende müssen zusätzlich zur Anwendung therapeutischer Techniken gezielt Räume schaffen, in denen die Klient:innen lernen und erfahren können, sich von äußeren Reizen abzuschotten und sich auf ihre inneren Prozesse einzulassen.

Ambauen betont die Bedeutung von Langsamkeit, Achtsamkeit, Resonanzerlebnisse ermöglichen und die Förderung von Monotasking in der Therapie. Durch gezielte Übungen und Gespräche können Therapeut:innen ihre Klient:innen unterstützen, «eine tiefere Verbindung zu sich selbst aufzubauen und ihre psychische Widerstandsfähigkeit zu stärken.“

Maja Storch betont in ihrem Referat «Embodied Communication», dass erfolgreiche Kommunikation voraussetzt, dass wir wissen, was wir ausdrücken, senden möchten und dies entsprechend beim Empfänger ankommt. Die Senden – Empfangen Idee setzt einen Empfänger voraus, der die Nachricht korrekt entziffert. Oft ist dies jedoch nicht der Fall, denn Verstehen im Sinne von korrekt entziffern, entspricht nicht der neurobiologischen Realität des Gehirns. Unser Gehirn ist erstaunlich gut darin, auch unvollständige oder fehlerhafte Botschaften zu interpretieren. Dr. Storch nennt dafür den Fachbegriff Musterergänzung. Dies geschieht meist unbewusst und kann zu Missverständnissen führen, da wir unsere eigenen Erwartungen und Erfahrungen in die Interpretation – die «Entschlüsselung der Botschaft» einbringen.

Kommunikation findet jedoch nicht nur auf kognitiver Ebene statt. Ein wichtiger Aspekt der Kommunikation, der oft übersehen wird, ist die sogenannte „Embodied Communication“. Hierbei erzeugt unser Körper durch Gesten, Mimik und Körperhaltung Bedeutung, die unsere sprachlichen Äußerungen ergänzt oder sogar widerspricht. Unsere Körperempfindungen und Gefühle spielen dabei eine entscheidende Rolle und beeinflussen, wie wir Informationen aufnehmen und verarbeiten.

Die Basis für erfolgreiche Kommunikation liegt in der Synchronisation. Wenn Menschen sich gut aufeinander einstellen und ihre Interaktionsprozesse abstimmen, entsteht ein Gefühl von Verbindung und Verständnis. Diese Synchronisation kann sowohl unbewusst (Interaktionssynchronie) als auch bewusst herbeigeführt werden (Induktionssynchronie).

  • Um effektiv zu kommunizieren, müssen wir uns unserer eigenen Botschaften bewusst sein und die Bedeutung von nonverbaler Kommunikation erkennen.
  • Wir sollten bereit sein, die Perspektive unseres Gegenübers einzunehmen und unsere Interpretationen zu hinterfragen.
  • Durch die gezielte Förderung von Synchronisation können wir die Qualität unserer Kommunikation verbessern und Missverständnisse vermeiden.

Unter diesen Aspekten stellt sich die Frage, ob «Nicht-körperliche künstliche Intelligenz» diesem Anspruch gerecht werden können. Der Avatar von Gunther Schmidt überraschte an der Tagung mit viel Selbstzweifeln dazu.

Klaus Eidenschink betont in seinem Referat «Reservate der Sinnlichkeit – beraten mit Becken, Herz & Hirn», dass es diese untilgbaren Features von Menschen sind, die uns von Maschinen unterscheiden und 2030 in Beratung, Coaching und Therapie wichtig sind. Als erfolgreicher Coach und Organisationsberater sowie Autor von Bestsellern wie «die Kunst des Konflikts» und «Es gibt keine Narzisten – nur Menschen in narzistischen Nöten» begeistert er erneut bereits mit dem Vortragstitel.

All jene Beratungsinterventionen, Methoden die über die Kognition (das eine der Vernunft) laufen, die etwas mit Selbstreflexion, Optimieren des Bestehenden, Anregung von Verhaltensalternativen, Fertigkeitsaufbau usw., Einschätzung von Menschen/Diagnostik zu tun haben, werden künftig ordentlich Konkurrenz durch KI erhalten oder gar von KI besser gemacht.

Dadurch wird in Beratung all das wichtiger, wo Menschen nicht durch Maschinen ersetzbar sind – also das andere der Vernunft wie Körper, Affekte, Wahrnehmung, Herzensbildung und dergleichen. Eidenschink betont die Bedeutung von körperlicher Präsenz und Interaktion in zwischenmenschlichen Beziehungen. Diese gehen über das bloße körperliche Erleben hinaus und führen zu Störungen bestehender Muster, was wiederum unmittelbare Reaktionen auslöst.

Für Eidenschink ist die Fähigkeit zur Absichtslosigkeit ein entscheidender Faktor für erfolgreiche Beratung in der Zukunft. Im Gegensatz zu Maschinen, die Menschen zu bestimmten Zielen führen können, ermöglicht die absichtslose Haltung des Beraters, der Beraterin Raum für neue Entwicklungen und Erkenntnisse bei Klient:innen. Ein wichtiger Aspekt der Beratung ist das bewusste Schaffen von Raum für Neues. Indem Berater:innen Klient:innen dazu einladen, ungelebte Möglichkeiten zu erkunden, unterstützen sie diese dabei, sich weiterzuentwickeln.

In einer Welt, die ständig neuen Reizen und Veränderungen ausgesetzt ist, ist es umso wichtiger, dass Menschen eine tiefe Verbindung zu sich selbst und ihrer Umwelt entwickeln. Diese Verwurzelung bietet Halt und Orientierung in einer zunehmend unübersichtlichen, komplexen Welt. Klaus Eidenschink plädiert für eine ganzheitliche Sichtweise auf den Menschen, die sowohl die körperliche als auch die psychische Ebene umfasst. In der Beratung sieht er die Absichtslosigkeit als Schlüsselqualifikation, um Klient:innen dabei zu unterstützen, ihre individuellen Potenziale zu entfalten.

Wie gestaltet sich nun also Beratung, Coaching und Therapie im Jahr 2030 und wie weit kann das «sich echt anfühlen» also gehen?

Im Jahr 2030 wird die Künstliche Intelligenz (KI) und die Digitalisierung voraussichtlich enorm weiterentwickelt sein und viele Prozesse und Aufgaben in verschiedenen Bereichen übernehmen können.

  • Künstliche Intelligenz wird in der Lage sein, Stimmungsanalysen durchzuführen, Emotionen zu erkennen und darauf zu reagieren. Algorithmen können zum Beispiel durch Gesichtserkennung oder Stimmanalyse bestimmte Emotionen wie Trauer oder Freude erkennen und darauf abgestimmt antworten.
  • KI wird in der Lage sein, riesige Datenmengen zu analysieren und auf Basis dieser Daten präzise Lösungen oder Vorschläge zu machen, die in vielen Fällen sehr nützlich und zeitsparend sind.
  • Maschinen können Entscheidungen nach festgelegten Algorithmen und Regelwerken treffen, die auf den ethischen Richtlinien basieren, die ihnen einprogrammiert wurden.
  • KI kann riesige Datenmengen durchforsten und Muster erkennen, die Menschen oft übersehen, und daraus innovative Vorschläge generieren.
  • KI-Systeme werden in der Lage sein, kreative Inhalte wie Kunstwerke, Musik oder Texte zu erstellen, die basierend auf früheren Daten und Algorithmen entworfen wurden.
  • Sprachassistenten und Chatbots werden in der Lage sein, fließende Gespräche in vielen Sprachen zu führen und menschliche Sprache immer besser zu verstehen. Sie können standardisierte Fragen beantworten und grundlegende Kommunikation effizient abwickeln.

(Aufzählung nicht abschliessend)

KI kann jedoch eher nicht:

  • Eine tiefgreifende, authentische Empathie oder das Erkennen und Reagieren auf komplexe emotionale Zustände in echten menschlichen Interaktionen bleibt jedoch eine Herausforderung. Der subtile, oft unbewusste Austausch zwischen Menschen, der durch Erfahrungen, Mimik und kulturelle Nuancen geprägt ist, wird schwer vollständig durch KI erfasst werden können.
  • In komplexen, unvorhersehbaren Situationen, die kontextbezogenes Denken und Flexibilität erfordern, wird menschliche Intuition und Erfahrung weiterhin unersetzbar sein. Menschen können mehrere Faktoren, die weit über Daten hinausgehen, in ihre Überlegungen einbeziehen und maßgeschneiderte Lösungen anbieten, die stark von individuellen Werten, sozialen Aspekten oder ethischen Überlegungen abhängen.
  • Moralische und ethische Urteile, insbesondere in Dilemma-Situationen, in denen es keine eindeutigen Antworten gibt, bleiben eine Domäne des Menschen. Menschen nutzen hier oft Erfahrungen, Emotionen und gesellschaftliche Werte, um Entscheidungen zu treffen.
  • Zwischenmenschliches Vertrauen entsteht durch persönliche Beziehungen, gemeinsame Erfahrungen und langanhaltende Interaktion. Vertrauen in beratenden Situationen, besonders in heiklen oder persönlichen Angelegenheiten, wird weiterhin stark von menschlicher Authentizität und Verlässlichkeit geprägt sein, die KI nicht nachbilden kann.
  • Wahre Kreativität, die oft durch subjektive, emotionale oder spontane menschliche Erfahrungen inspiriert wird, bleibt eine menschliche Stärke. Während KI auf bestehende Daten zugreifen kann, ist das Schaffen von etwas wirklich Neuem und Unvorhergesehenem oft ein Prozess, der Intuition und Experimentierfreudigkeit erfordert.
  • Komplexe Sprachnuancen, Ironie, Sarkasmus oder kulturelle und situative Kontexte richtig zu deuten, bleibt eine Herausforderung. Menschliche Kommunikation ist oft subtil und mehrdeutig, und die tiefere Bedeutung einer Aussage zu erfassen, kann ohne menschliche Erfahrung schwierig sein.

Angelehnt an Gedanken wie «Veränderung passiert stets», «Absichtslosigkeit» und «Umgang mit dem Ungewissen» können wir wohl heute noch gar nicht abschätzen, was die Künstliche Intelligenz in Zukunft kann und inwieweit sie unser Leben und Beratung, Coaching und Therapie verändern wird. Wir erinnern uns: Henry Ford sagte einst zum Automobil: „Die weltweite Nachfrage nach Kraftfahrzeugen wird eine Million nicht überschreiten – allein schon aus Mangel an verfügbaren Chauffeuren.“ Oder zur Glühbirne meinte der Oxford-Professor Erasmus Wilson: „Wenn die Pariser Weltausstellung vorbei ist, wird das elektrische Licht ausgehen und wir werden nie mehr davon hören.“

Fakt ist: Die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine entwickelt sich rasant. Künstliche Intelligenz (KI) dringt in immer mehr Bereiche unseres Lebens vor, auch in Therapie und Beratung. Doch wenn es um komplexe menschliche Interaktionen, ethische Entscheidungen, Empathie oder tiefgreifende persönliche Beratung geht, wird der Mensch eine unverzichtbare Rolle behalten. Welche Rolle der Mensch, Berater:in, Coach und Therapeut:in in dieser neuen Welt dann tatsächlich spielen wird, wird sich 2030 zeigen. Die Tagung hat einige Ideen aufgezeigt und mit wertvollen, inspirierenden Gedanken und Konzepten angeregt.  

To top