Welche Assoziationen haben Sie, wenn Sie das Wort „Anker“ hören?
Am besten wäre es, wenn wir das einmal im Gespräch durchspielen könnten, da das nicht geht, will ich hier einmal stellvertretend für Sie assoziieren: ein Anker
- ist schwer
- er lässt sich nur schwer bewegen
- er ist stark, ein großes Boot wird von ihm gehalten
- das Boot mag an ihm zerren, er hält es fest und bewahrt es davor, führerlos aufs offene Meer hinausgetrieben zu werden oder an den Uferfelsen zu zerschellen
und: ein Anker hat eine Ankerkette, die ihn mit dem Boot fest verbindet.
Was für eine andere Assoziation als das Wort „Macht“ – dieses verbindet sich assoziativ sehr schnell mit der Vorstellung, dass da jemand Macht über einen anderen hat. Es ist auch assoziiert mit Stärke, aber einer anderen Form von Stärke, nämlich einer, die dem Besitzer Überlegenheit verleiht.
Wie anders ist doch die Stärke des Ankers! Ich glaube, dass das Bild des Ankers in der Arbeit nach dem gewaltlosen Widerstand für Eltern sehr anschlussfähig ist, die Stärke des Ankers entspricht genau dem, was wir mit „wachsamer Fürsorge“ meinen, es ist eine Form von Stärke, die auf die Kraft der Bindung setzt und nicht auf die Kraft der Kontrolle. Vom ersten Lebensmoment an, das wissen wir heute aus der Säuglingsforschung, sind Kinder aktiv dabei, Bindungsangebote zu machen – und auf solche Angebote ihrerseits aktiv einzugehen. Bindung ist sozusagen das „Ostinato“, das kontinuierlich die kindliche Entwicklung und mehr noch, das menschliche Leben begleitet – im guten Fall schwingt die Musik dieses Ostinato auf gute Weise, wir fühlen uns getragen, sicher, verbunden und verortet, im Wissen darum, dass unser Boot nicht so schnell abgetrieben werden wird, und im kritischen Fall erleben wir immer wieder Missklänge, die wir versuchen zu korrigieren.
Die Kommunikation in der Familie erfüllt eine sehr andere Funktion als etwa im Betrieb oder in der Schule. Wir nennen diese Kommunikation „Bindungskommunikation“. Denken Sie einmal daran, wie Sie heute oder gestern früh morgens aufgestanden sind. Sie begrüßen Ihre Lieben (falls Sie nicht gerade als Single leben, dann müssen Sie an einen anderen Kontext denken) mit einem freundlichen Guten Morgen, einem Kuss oder einer Umarmung. Dann fragt man, wie man geschlafen habe, erzählt vielleicht ein Traumstückchen, hört dem Geplauder der Kinder zu usw. Was ist der Informationswert dieser Kommunikation? Null! Weiß ich noch, wie meine Frau vor drei Wochen am Dienstag geschlafen hat? Erinnere ich mich noch an das Traumstück, von dem sie mir erzählte? Nein. Und doch war es nicht vergebens, dass wir darüber gesprochen haben, denn wir haben damit etwas sehr wichtiges getan: unsere Bindungsbeziehung reaktualisiert. Darum hat auch der Papst Unrecht, wenn er sagt, Sexualität diene der Fortpflanzung. Sie dient zu einem weit größeren Teil der Reaktualisierung von Bindung. Darin besteht Familienleben: dass sich Menschen kontinuierlich der Welt vergewissern, sich gegenseitig vermitteln, dass sie in Ordnung ist. Kinder machen das manchmal sehr deutlich, wenn sie etwa sagen: „Hast Du mich denn auch lieb!“ „Ja, mein Schatz!“ „Wirklich?“ „Ja!“.
Ich erinnere mich daran, wie unsere Tochter bei den Schularbeiten Bibi Blocksberg hörte, Hörspiele! Wir überlegten, es ihr zu verbieten, aber wir verstanden, dass sie gar nicht auf die Worte hörte, sondern dass die Kassetten ihr so etwas vermittelten, was wir ihr in der Intensität gar nicht bieten konnten: die Stabilisierung der Welt. Bindung, so könnten wir sagen, hilft das Gefühl zu vermitteln, die Welt sei in Ordnung. Noch radikaler gesagt: Bindung ist die Ordnung unserer Welt, zumindest unseres Mikrokosmos.
Doch diese Welt ist störanfällig. Wir erleben, dass Kinder im Entwicklungsverlauf die Bindungsbeziehung hinterfragen, strapazieren, dass Eltern selbst schwierige Bindungserfahrungen als Mitgift in die Familie einbringen. Im schlimmsten Fall reißt der Klang ab. Auseinandersetzungen beginnen, Beleidigungen, Machtkämpfe oder gar Schläge – unabhängig davon, wer da wen schlägt. An die Stelle der Bindung tritt der Kampf um die Macht.
Damit wird die Bindungsbeziehung beeinträchtigt oder gar beschädigt. Ergebnisse der Bindungsforschung zeigen, dass sich Störungen in der Verbindung von Bezugspersonen und Kindern im symptomatischen Verhalten der Kinder wiederfinden lassen. Das „affektive Tuning“ (auch Affektabstimmung), also das Muster, wie sich Eltern und Kinder wechselseitig aufeinander einstimmen, ist nicht nur in der Säug-lingszeit bedeutsam, sondern bildet den kontinuierlichen Boden, auf dem sich die Familienbeziehungen reproduzieren und allen Beteiligten ein Gefühl von Sicherheit, Stabilität und Ordnung vermitteln. Im Fall von behandlungsbedürftigen Verhaltensauffälligkeiten sind diese Muster in negative, oft desorganisierte Teufelskreise abgeglitten, in denen keine positive Wechselseitigkeit mehr möglich scheint.
Und an dieser Stelle nun geschieht in unserer Kultur etwas sehr Gefährliches: unsere Kultur deutet die Anzeichen beschädigter Bindungsbeziehung als Verlust von Kontrolle: das darfst du dir nicht bieten lassen! Und damit beginnen die Teufelskreise von symmetrischer oder komplementärer Eskalation.
Doch jeder Eskalationsschritt beschädigt eine bereits labilisierte Bindungsbeziehung weiter. Und je hilfloser sich die Eltern in diesem schlimmen Prozess fühlen, desto mehr geht gerade das verloren, was sie besonders brauchen: die Fähigkeit, Anker zu sein. Die kindlichen Symptome deuten auf die beschädigte oder verlorengegangene Bindungsbeziehung hin. Die verlorene Kontrolle ist nur das Symptom, die Bindung ist das eigentliche.
Versuche, die beschädigte Bindung mit Mitteln der Kontrolle wieder herzustellen, irritieren die beschädigte Bindungsbeziehung weiter. Denn Bindung braucht Vertrauen, braucht das Bewusstsein: ‚Du – der andere – willst mir Gutes!’ Wir haben den feindseligen Wahrnehmungsfehler, der von der Gruppe um Dodge gefunden wurde, ausführlich beschrieben: hoch aggressive Kinder interpretieren auch ein freundliches Gesicht als Angriff und reagieren entsprechend aggressiv: „Was grinst so komisch!“ Angriff ist die beste Verteidigung, wenn man in einer inneren und äußeren Welt lebt, in der man nicht mehr vertrauen kann. So wird verhindert, dass eine beschädigte Bindungsbeziehung wieder „geheilt“ wird, stabilisiert sich ein misstrauisches Weltbild durch selbsterfüllende Prophezeiung.
Das Modell des gewaltlosen Widerstands ist, so gesehen, alles andere als ein Konzept zur Wiederherstellung elterlicher Kontrolle oder gar elterlicher Macht. Es ist eher ein Instrument zur Heilung beschädigter Bindungsbeziehungen, ein Angebot an das Kind, sich wieder an den „Anker“ zu binden. So gesehen erklärt es sich, dass sehr oft ein Kind im Sit-In gar keinen Vorschlag zur Änderung seines Verhaltens macht, und sich die Familienbeziehungen dennoch entspannen.
Für mich bedeutete die Beschäftigung mit dem Begriff „Bindung“ eine Fokusverschiebung. Er war mir bislang im Wesentlichen nur für die frühe Eltern-Kindbeziehung präsent war, seine Kausalimplikationen: elterliche Feinfühligkeit bewirkt bzw. verhindert sichere Bindung, fand ich problematisch. Doch inzwischen sehe ich Bindung als existenzielle Kategorie unserer sozialen Existenz. Und mein Unbehagen über Supernanny oder jetzt das neue Buch von Winterhoff über die Tyrannen wird mir bewusster und vor allem besser artikulierbar: wer sich auf das kindliche Verhalten und dessen Veränderung konzentriert, der bewegt sich auf einem potentiell gefährlichen Terrain: die Beruhigung der Lage in der Familie mag erkauft werden durch eine Gefährdung der Beziehung. Aus einer systemischen Sicht sind die kritischen Implikationen von Konzepten und der aus ihnen abgeleiteten Handlungsanweisungen zu bedenken. Ein Prinzip kann die Beziehung zwischen Eltern und Kind blockieren. Wenn eine Mutter/ein Vater sich vornimmt, konsequent zu sein, dann droht das „Prinzip der Konsequenz“, die Beziehung zwischen Eltern und Kind zu unterbrechen, es steht sozusagen zwischen den beiden Seiten. Einem Vorgehen, das sich auf „Durchsetzung“ und „Konsequenz“ beruft, scheint implizit ein Modell einer „guten Beziehung“ zu unterliegen, das auf optimaler Kontrolle des störenden Kindes basiert.
Ich will – wie schon vor zwei Jahren – nicht gegen Supernanny wettern, in vielen Fällen wird sie hilfreich sein, ich will nur unter der Perspektive der Bindungsbeziehungen auf ein Risiko hinweisen, das hier besteht, eine möglicherweise langfristige Belastung der Bindung, wenn man sich auf Verhaltenskontrolle allein fokussiert.
Das Bild von Stärke: die Stärke des Ankers. Sie sagt kontinuierlich
- ich bin da
- ich bleibe da
- du kommst an mir vorbei
- und ich bedrohe dich nicht, ich schade dir nicht – denn: ich bin für dich da!
Arist von Schlippe, Prof.Dr.phil.habil., Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut