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Systemische Psychoedukation gestern, heute und morgen

Susanna Neueder & Stefan Geyerhofer

Die Methode der Psychoedukation wurde als Methode zur Vermittlung von Wissen über Gesundheit und Krankheit entwickelt (Anderson et al., 1980; Mühlig & Jacobi, 2020) und hat sich als wirksame therapeutische Intervention bei unterschiedlichen psychischen und somatischen Beschwerden erwiesen (Chen et al., 2019; Garcia Rodrigues et al., 2022; Goldstein & Miklowitz, 1995; Powell et al., 2022; Schmidt, 2012). So können psychoedukative Maßnahmen dazu beitragen, die Krankheitseinsicht, die Adherenz, die Handlungskompetenz, das Selbstwertgefühl und die gesundheitsbezogene Lebensqualität von KlientInnen/PatientInnen zu steigern (Dahl et al., 2020; Day et al., 2020; Karababa & Avcı, 2023).

Dennoch wird die Methode der Psychoedukation kontrovers diskutiert. KritikerInnen behaupten, dass Psychoedukation eine hierarchische Kommunikation „von oben herab“ und weniger eine Kommunikation auf Augenhöhe fördert. Demnach nehmen TherapeutInnen eine übergeordnete Position als ExpertInnen ein, welche ein Machtgefälle zwischen TherapeutIn und KlientIn/PatientIn herstellt. Laut Bock und Heumann (2015) vermittle Psychoedukation, dass Krankheiten biologisch determiniert und somit unkontrollierbar sind. Sie führen aus, dass Psychoedukation den Handlungsspielraum von KlientInnen/PatientInnen in den Schatten stellt und der Vielfalt des menschlichen Daseins nicht gerecht wird. Hornung (2015) entgegnet, dass die psychotherapeutische Haltung hinter der Methode der Psychoedukation von KritikerInnen missverstanden wird. Psychoedukation im therapeutischen Sinne sei vielmehr als partnerschaftliches Konzept zu verstehen, das den Wissensvorsprung von TherapeutInnen gegenüber KlientInnen/PatientInnen ausgleichen soll. Er argumentiert, dass das subjektive Erfahrungswissen von KlientInnen/PatienInnen erst dann zum Tragen kommt, wenn neben dem individuellen eigenen Krankheitserleben ein zusätzliches, übergeordnetes Wissen bezüglich allgemeingültiger Krankheitsfakten entsteht. Folglich sei es Betroffenen nur von einer informierten Warte aus möglich, bewusste und selbstbestimmte Entscheidungen in Bezug auf ihre Erkrankung und Behandlung zu treffen.

Diskurse wie diese drängen die Frage nach einer reformierten Psychoedukation auf. Wie kann Wissen im therapeutischen und beratenden Kontext zur Verfügung gestellt werden, ohne dabei die Augenhöhe zu verlieren? Interessante Lösungsansätze und psychoedukative Tools lassen sich in der systemischen Familientherapie finden. Ausgehend von der therapeutischen Haltung des Nicht-Wissens (Anderson & Goolishian, 1992) wird Psychoedukation als Dialog zwischen der Fachexpertise und der Erfahrungsexpertise von KlientInnen verstanden. Wichtig dabei ist, dass Fachwissen als Angebot zur Verfügung gestellt wird und anschließend Raum gegeben wird, auf dieses Fachwissen Bezug zu nehmen. So bleibt es KlientInnen selbst überlassen, ob sie sich in den psychoedukativen Inhalten wiederfinden oder von diesen abgrenzen. Ziel systemischer Psychoedukation ist eine Auseinandersetzung mit der subjektiven Wirklichkeit von KlientInnen. Um systemische Psychoedukation zu unterstützen, wurden bereits einige hilfreiche therapeutische Tools entwickelt, die von altbewährten Medien wie Bücher über neue digitale Medien wie animierte Zeichentrickvideos reichen. Einen bedeutenden Anfang in der Entwicklung systemischer psychoedukativer Tools machte um 1999 Yasunaga Komori, der psychoedukative Elemente mithilfe von Puppenspiel in die systemische Familientherapie einführte (Unterholzer & Just, 2019). Von den Ansätzen der narrativen Therapie inspiriert ließ er in Form einer Handpuppe Mr. Shizo, die externalisierte Schizophrenie auftreten. Komori führte ein ausführliches Interview mit Mr. Shizo, in dem er ihn geschickt über seine Entstehung und seine Bewältigung ausfragte. Dieses Interview wurde abgefilmt – das erste systemische psychoedukative Video war entstanden. Auf der Arbeit von Komori aufbauend entwickelte das Team des Instituts für Systemische Therapie (IST) in Wien weitere Videos, die therapeutische Prozesse unterstützen. In diesen kann man beispielsweise Ana Ex, der externalisierten Magersucht und Morton Mies, der externalisierten Depression auf die Schliche kommen oder Arti Akkurats autistische Wahrnehmung kennenlernen.

Auch das psychoedukative Projekt PSYDUCATED widmet sich der systemischen Psychoedukation. In Zusammenarbeit mit Fach- und ErfahrungsexpertInnen wurde eine psychoedukative Webplattform zur Stärkung der Gesundheitskompetenz von Kindern und Jugendlichen sowie zur Stärkung der Unterstützungskompetenz von Erwachsenen auf die Beine gestellt. Das Herzstück von PSYDUCATED sind psychoedukative Verstehvideos in Form von Zeichentrick, die über die psychische und körperliche Gesundheit, aber auch über allgemeine gesundheitsrelevante Themen aufklären. Ganz bewusst ist von Verstehvideos und nicht von Erklärvideos die Rede. Damit soll unterstrichen werden, dass gesundheitsrelevante Themen nicht nur erklärt werden, sondern darauf Wert gelegt wird, dass sich Kinder und Jugendliche verstanden fühlen, ihr persönliches Erleben verständlich machen und die eigene Wirklichkeit besser verstehen. Als Leitmotiv für die Entwicklung der Geschichten der Verstehvideos wird das Konzept des Kohärenzgefühls herangezogen. Das Kohärenzgefühl ist das Kernelement der Salutogenese, die sich anstelle der Entstehung von Krankheit mit der Entstehung und dem Erhalt von Gesundheit beschäftigt (Antonovsky, 1997). Entsprechend der drei Komponenten des Kohärenzgefühls wird darauf geachtet, die Verstehvideos verstehbar, handhabbar und sinnhaftig zu gestalten. Ergänzend zu den Verstehvideos sind Podcasts und Begleithefte auf der Webplattform abrufbar, die Erwachsene unterstützen, Kinder und Jugendliche im Verstehen ihrer eigenen Gesundheit gut zu begleiten. Das Projekt verfolgt also keineswegs die Absicht, persönliche Gespräche zwischen Kindern und Erwachsenen zu ersetzen, sondern Gesprächseinstieg ein komplexe, sensible und schambesetzte Themen zu erleichtern und vertrauensvolle Gespräche zwischen Kindern bzw. Jugendlichen und Erwachsenen nachhaltig zu stärken.

Diese praxisnahen Beispiele zeigen uns, dass Psychoedukation wohl auf Augenhöhe stattfinden kann und damit eine große Bereicherung für beratende Gespräche und therapeutische Prozesse sein kann. Vielleicht sollten wir uns weniger die Frage nach dem „Ob“, sondern vielmehr die Frage nach dem „Wie“ stellen. Wie können wir Psychoedukation auf Augenhöhe praktizieren, ohne eine bereits konstruierte Wirklichkeit vorzugeben? Wie können wir Psychoedukation gestalten, sodass sie vielmehr zu einer selbstreflektierten Auseinandersetzung von KlientInnen mit der eigenen Wirklichkeit führt? Eine Reform der Psychoedukation, die schon früh angestoßen wurde. Unsere Aufgabe ist es, sie weiterzuführen und weiterzudenken, um KlientInnen die Chance zu geben, zu ExpertInnen ihrer eigenen Gesundheit zu werden.

  • Anderson, H. & Goolishian, H. (1992). Der Klient ist Experte: Ein therapeutischer Ansatz des Nicht-Wissens. Zeitschrift für Systemische Therapie und Beratung, 10, 176-189.
  • Antonovsky, A. (1997). Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie.
  • Bock, T., & Heumann, K. (2015). Psychoedukation ist ein überholtes paternalistisches Konzept – Pro. Psychiatrische Praxis, 42, 296-297.
  • Chen, R., Zhu, X., Capitão, L. P., Zhang, H., Luo, J., Wang, X., Xi, Y., Song, X., Feng, Y., Cao, L. & Malhi, G. S. (2019). Psychoeducation for psychiatric inpatients following remission of a manic episode in bipolar I disorder: A randomized controlled trial. Bipolar Disorders, 21(1), 76-85.
  • Dahl, V., Ramakrishnan, A., Spears, A. P., Jorge, A., Lu, J., Bigio, N. A., & Chacko, A. (2020). Psychoeducation interventions for parents and teachers of children and adolescents with ADHD: A systematic review of the literature. Journal of Developmental and Physical Disabilities, 32(2), 257–292.
  • Day, M., Clarke, S.-A., Castillo-Eito, L., & Rowe, R. (2020). Psychoeducation for children with chronic conditions: A systematic review and meta-analysis. Journal of Pediatric Psychology, 45(4), 386–398.
  • Garcia Rodrigues, M., Rodrigues, J. D., Pereira, A. T., Azevedo, L. F., Pereira Rodrigues, P., Areias, J. C. & Areias, M. E. (2022). Impact in the quality of life of parents of children with chronic diseases using psychoeducational interventions – A systematic review with metaanalysis. Patient Education and Counseling, 105(4), 869-880.
  • Goldstein, M. J., & Miklowitz, D. J. (1995). The effectiveness of psychoeducational family therapy in the treatment of schizophrenic disorders. Journal of Marital and Family Therapy, 21(4), 361–376.
  • Hornung, W. (2015). Psychoedukation ist ein überholtes paternalistisches Konzept – Kontra. Psychiatrische Praxis, 42(6), 297–298.
  • Karababa, A., & Avcı, R. (2023). Effect of the self-worth strengthening group psycho-education program based on systemic therapy on the self-worth of emerging adults. Contemporary Family Therapy, 1–15.
  • Mühlig, S. & Jacobi, F. (2020). Psychoedukation. In J. Hoyer und S. Knappe (Hrsg.), Klinische Psychologie & Psychotherapie (S. 557-573). Springer-Verlag.
  • Powell, L. A., Parker, J., Weighall, A., & Harpin, V. (2022). Psychoeducation intervention effectiveness to improve social skills in young people with ADHD: A meta-analysis. Journal of Attention Disorders, 26(3), 340–357.
  • Schmidt, F. (2012). Nutzen und Risiken psychoedukativer Interventionen für die Krankheitsbewältigung bei schizophrenen Erkrankungen (1. Auflage). Psychiatrie Verlag.
  • Unterholzer, C. & Just, A. (2019). Wie Symptome siegen und wie sie scheitern. Zur Wirksamkeit und zum Einsatz der DVDs Ana Ex, Morton Mies, Vreni Shizzo und Ronni Rocket. Ein Handbuch. (1. Auflage, S. 21-26). Heidelberg: Carl Auer Verlag.

Susanna Neueder, MSc. Psychotherapeutin (Systemische Familientherapie), Klinische Psychologin, Gründerin der psychoedukativen Webplattform PSYDUCATED www.psyducated.com, www.neueder.at

Mag. Stefan Geyerhofer Psychotherapeut (Systemische Familientherapie), Klinischer und Gesundheitspsychologe, Coach, Trainer, Supervisor, Mitbegründer des Instituts für Systemische Therapie (IST), www.geyerhofer.com

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