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Zum Blühen systemischer Praxis

Vom 3. bis 7. April 1991 wurde in Heidelberg mit einem Symposium „Das Ende der grossen Entwürfe und das Blühen systemischer Praxis“ gefeiert. Klar: zum heutigen Zeitpunkt erhält man Tausende oder gar Millionen von Ergebnissen bei der Suche nach „systemisch“ im World-Wide-Web. Bis zu dieser Tagung war dieser Begriff jedoch noch relativ unbekannt. 1991 war die Zeit, in der systemisch noch systematisch falsch geschrieben wurde. Erst viele Jahre später erschienen die ersten Lehrbücher in systemischer Therapie und noch später folgte die wissenschaftliche Anerkennung.

Die damalige Konferenz lässt sich als Meilenstein sehen, mit dem eine wichtige Etappe der Entwicklung systemischen Denkens markiert wurde. Über 2000 Teilnehmer:innen aus ganz Europa waren der Einladung gefolgt. Unser wertvoller wilob Dozent Haja Molter hat an dieser Konferenz sehr spannende Interviews mit damals schon sehr anerkannten systemischen Therapeut:innen (Luigi Boscolo, Gianfranco Cecchin, Rosmarie Welter-Enderlin und Matteo Selvini) geführt. Damals tobte gerade der Irakkrieg und ihn interessierte, welchen Einfluss das systemische Denken und Handeln in unserem sozialen und politischen Leben hat. Dazu stellte er all seinen Interviewpartnern mehr oder weniger die gleichen Fragen:

  • Welchen Einfluss hat systemisches Denken und Handeln in unserem sozialen und politischen Leben?
  • Was können wir tun, oder was kannst du als führender systemischer Therapeut tun?
  • Wie denkst du darüber angesichts der gegenwärtigen Weltlage – was kann systemisches Denken bewirken?
  • Kindesmissbrauch, Gewalt in Familien, Drogenabhängigkeit – denkst du, dass systemische Therapie da einen besseren Job macht als andere Therapien? Wo liegt der Unterschied?
  • Wie kann systemisches Denken dabei helfen, die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zu beseitigen und die angeborenen Unterschiede zu achten?
  • Glaubst du, dass es schon einen Fortschritt in der Beziehung der Geschlechter gibt?
  • Welchen Einfluss hat das systemische Denken und Handeln auf die ökologische Bewegung?

In diesem Artikel gehen wir den ersten drei Fragen nach und schauen, wer welche Antwort darauf gegeben hat. Noch spannend zu wissen: Damals herrschten wachsende Spannungen in der Golfregion und der Dritten Welt, in Deutschland zeigten sich immer mehr die Herausforderungen der Wiedervereinigung. Es ist unseres Erachtens heute noch sehr spannend, was die Interviewpartner dazu sagten. Ihre Antworten lassen sich auch auf die „Zeitenwende“ beziehen.

Welchen Einfluss hat systemisches Denken und Handeln in unserem sozialen und politischen Leben?

Luigi Boscolo: Politisch gesehen hat es wenig Einfluss. Ich denke, es beeinflusst das persönliche Leben, mein Leben und hoffentlich auch das Leben meiner Klient:innen. Es hat sicher Einfluss auf die Student:innen und all die Menschen, mit denen ich mich verbunden fühle. Ich begegne mehr und mehr Menschen, die systemisch denken. Meine Hoffnung ist, dass das systemische Denken und Handeln Einfluss haben wird, aber in einem größeren Zusammenhang gesehen hat es keinen großen Einfluss.

Gianfranco Cecchin: Ich denke, er ist nicht sehr bedeutend. Aus dem systemischen Denken und Handeln kommen sehr viele Ideen. Doch Tatsache ist, dass die größeren Institutionen nicht offen dafür sind zu sehen, was wir sehen. Das könnte zwei Gründe haben: Das, worüber wir sprechen, macht für die Politiker:innen keinen Sinn bei dem, was in der großen Welt, in den Machtsystemen, Organisationen und Institutionen passiert. Wir sprechen noch nicht in einer passenden Sprache, und es könnte eine Gefahr darin liegen, dass wir sehr gut darin sind, miteinander zu sprechen, was eine Konferenz wie diese zeigt. Wir können Menschen zusammenbringen, 2000 Leute diskutieren miteinander über bestimmte Konzepte.

Rosmarie Welter-Enderlin: Ich würde sagen ganz, ganz wenig. Ich habe bei diesem Kongress oft gedacht, wenn man diese Mengen von Menschen sieht, dann könnte ich meinen, wir wären im Hauptstrom des politischen und überhaupt des menschlichen Geschehens. Und ich denke, wir sind ein Tropfen auf dem heißen Stein. Wenn ich die Zeitung lese und so um mich herum schaue, dann habe ich das Gefühl, dass wir uns hier auch ein bisschen selber feiern, aber eigentlich gar keinen Grund haben, uns so aufzublähen.

Matteo Selvini: Ich finde, es ist sehr interessant, sich zu fragen, was über unsere Arbeit hinaus politisch relevant sein könnte? Gerade jetzt, während des Golfkrieges, stellen wir uns die Frage: Macht es Sinn, vielleicht 100 bis 200 Leuten mit unserer Arbeit zu helfen, ein besseres Leben zu führen, während im Golfkrieg Tausende getötet werden? Da fragt man sich nach dem Sinn unserer Arbeit. Die Antwort, die ich geben kann, ist, dass systemisches Denken und die Idee, unterschiedliches Verhalten unterschiedlicher Familienmitglieder miteinander zu verbinden, hier sehr bedeutsam ist. Denn heute können wir viel besser das Verhalten von Kindern verstehen. Die Art und Weise z. B., wie Kinder in der Familie essen, kann zu Rückschlüssen führen, wie sie sich als Erwachsene verhalten werden und welche kulturelle und politische Situation daraus in der Zukunft entsteht. Ich denke z. B., dass das, was im Irak passiert, viel mit dem kulturellen Klima, wie Gewalt in Familien entsteht, zu tun hat. Was wir über das Leben von Saddam Hussein erfahren haben, ist sehr interessant. Er war ein sehr missbrauchtes Kind.

Was können wir tun, oder was kannst du als führende:r systemische:r Therapeut:in tun?

Luigi Boscolo: Wir können arbeiten, unsere Ideen verbreiten und unsere Praxis ausbauen. Ich glaube, psychoanalytische Theorien hatten viel mehr Einfluss als systemische. Doch wenn man auf die letzte Zeit zurückblickt, hat sich die systemische Therapie sehr schnell verbreitet. In Italien z. B. arbeiten schon viele mit dem systemischen Modell, auch in öffentlichen Institutionen. Das hat schon Einfluss, auch wenn er noch nicht so groß ist.

Gianfranco Cecchin: Das ist eine Herausforderung. Es ist sehr schwer, darüber nachzudenken, was wir tun können. Hängt es damit zusammen, dass unsere Ideen im Moment nicht akzeptiert werden können? Oder hängt es damit zusammen, dass wir nicht wissen, wie wir über diese Ideen sprechen können? Ich weiß nicht, was im Moment überwiegt. Sicherlich haben wir Ideen dazu, ich meine, wir haben Ideen entwickelt, die sehr evident sind. Wenn wir Frieden sagen, dann meinen wir, man sollte einander lieben, dass man sich um die Umwelt kümmern sollte. Die meisten Menschen würden diesen Ideen zustimmen. Das liegt für mich auf der Hand. Das gilt selbst für Leute, die nicht mit uns übereinstimmen. Das ist zu einfach. Wir haben noch keine Strategie oder Idee entwickelt, die wirklich einen Effekt hat, das fehlt uns.

Rosmarie Welter-Enderlin: Dazu habe ich mir sehr viele Gedanken gemacht, wenn ich diese Fernseh-Dialoge gesehen habe, die eigentlich ja immer Monologe zwischen den Männern waren. Also, angefangen bei den Genfer Verhandlungen mit den beiden Ministern, dem amerikanischen und dem irakischen. Da habe ich gesehen, dass eigentlich keiner mehr auf den anderen gehört hat, sondern jeder einfach monologisch geredet hat. Da habe ich mir die Frage gestellt: Wie wäre es jetzt, wenn da zum Beispiel eine Moderatorin (und ich sage, eine Moderatorin mit dem, was wir aus der systemischen Beratung kennen, das heißt, mit relationalen Fragen), das Gespräch geführt hätte? Wäre da vielleicht etwas von diesem Aufweichungsprozess, den wir im Binnenbereich der Therapie doch immer wieder erfahren, überhaupt möglich gewesen? Also, wären diese Hahnenkämpfe, die ja schon im ganz Kleinen begonnen haben, dann vielleicht zu stoppen gewesen? Mit alternativen Wegen des Verhandelns, des Redens anstelle des Zuschlagens mit Waffen? Das wäre ein Beitrag, denke ich, den wir leisten könnten.

Wenn du die gegenwärtige Golfkrise oder die Situation in der dritten Welt betrachtest, wie steht es da mit systemischen Denken und Handeln, was können wir tun?

Luigi Boscolo: Das kann hilfreich sein, denn systemisches Denken ist ein Denken, das nach jeder denkbaren Möglichkeit einer besseren Lösung sucht. Es hat sich eine Theorie in den letzten 50 oder 70 Jahren über die Komplexität der Welt, die Komplexität der Kommunikation herausgebildet. Die Erde wurde ein globales Dorf. Mein Eindruck ist, dass die Theorie hilft, die Beziehungen zwischen sehr komplexen Systemen zu verstehen. Daher denke ich, das ist positiv und die systemische Betrachtung des Golfkrieges kann andere Möglichkeiten des Handelns oder Nicht-Handelns aufzeigen. In diesem Sinne halte ich die Theorie für nützlich, sie kann einen Effekt auf diese komplexen politischen und ökologischen Probleme ausüben. Was die Therapie angeht, ist der Einfluss noch begrenzt, sie ist eine Technik wie viele andere Arten von Therapie.

Gianfranco Cecchin: Wir können die Probleme analysieren, das macht einen Unterschied im Vergleich dazu, wie es andere Leute in Presse, Funk und Fern- sehen tun. Etwas so unterschiedlich beschreiben, dass es ankommt. Einfach zu sagen, wir sind dagegen, Krieg als Lösung des Problems anzusehen, das weiß jeder. Zu sagen, dass wir die Schwachen und Missbrauchten beschützen sollen, nur dagegen zu sein ist zu wenig. Wenn Leute von außen uns hören, klingen wir völlig machtlos. Du hast gefragt, was können wir tun, das sich unterscheidet. Das Einzige, was ich sehe, ist unsere Machtlosigkeit. Da ist vielleicht eine Sache, die wir anders machen können. So, wie wir mit Familien arbeiten, dass wir Gruppen von Teams bilden und in der Zeit, wo wir zusammen sind, uns auf eine Frage konzentrieren und nach Lösungen und Interventionen suchen. Wir müssen aufhören zu predigen, Predigen hilft nicht, wir wissen, dass es nutzlos ist. Wir glauben, dass ökologisch zu denken besser ist, als nicht ökologisch zu denken, das ist zu einfach.

Rosmarie Welter-Enderlin: Bisher hatten wir am meisten Einfluss vor allem bei Menschen, die vielleicht nicht direkt im therapeutischen Bereich engagiert sind, die aber in diesem Denken verhaftet sind. Also, ich denke zum Beispiel an die Leute von Greenpeace, die es auf eine ganz fantastische Art verstehen, Menschen zum Verzicht zu motivieren, ohne dass sie mit moralistischen Macht-Instrumenten vorgehen, sondern wirklich auf die gute Weise, indem sie ihnen mit Aufklärung, mit Information Möglichkeiten und Alter- nativen vor Augen führen und überzeugen, dass es nicht nur um Verzicht geht, sondern dass sie auch etwas gewinnen können. Meine ganz große Hoffnung und da sehe ich doch einige Zeichen dafür ist eben doch schon, dass die Kinder, dass die jungen Menschen heute viel, viel bewusster leben als wir, als wir Kinder oder Jugendliche waren. Und da, denke ich, hat dieses ökologische Denken Fuß gefasst und kann auch Blüten treiben, solange wir uns darüber klar sind, dass wir in der Ersten Welt nicht allein dieses Problem lösen können. Das bringt mich natürlich sofort auf die Frage: Was bedeutet das im Umgang mit der Dritten Welt? Da, denke ich, wird dann diese optimistische Perspektive wieder eher düster. Wenn ich jetzt sehe, was durch den Golfkrieg an Verschmutzung, an Öko-Katastrophen ausgelöst wurde und wie das den Konflikt zwischen Erster und Dritter Welt zusehends noch verschärft, dann bin ich weniger optimistisch.

Matteo Selvini: Das denke ich schon. Ich sehe die Nähe z. B. zu der Grünen Partei in Italien, das erscheint mir logisch, denn systemisches Denken betont die Verbindung von einzelnen Individuen mit der uns umgebenden Wirklichkeit . . . Die zentrale Idee ist der Respekt für andere gegenüber individualistischen Konzepten, d. h. andere Leute und die Natur zu respektieren. Systemisches Denken betont das mehr als andere.

Danke von Herzen Haja, dass du diesen Schatz für uns geöffnet hast und wir das bei uns publizieren dürfen. Weitere Fragen folgen in den nächsten Beiträgen!

Haja Molter: dipl. Psych., Psychologischer Psychotherapeut. Studium der Philosopie, Ethnologie und Psychologie in St. Augustin, Köln und Los Angeles. Lehrtherapeut am wilob und Institut für Familientherapie Weinheim, Gründer von molter nöcker networking GbR.

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