von Dr. Timo Nolle mein-prüfungscoach.de
9 von 10 Menschen haben bereits Prüfungsangst erlebt (Internationale Hochschule 2022, 1 600 Befragte von 16 bis 65 Jahren in Deutschland). Viele Schüler:innen, Studierende und Azubis entfalten nicht ihr Potential und können nicht den Beruf ergreifen, den sie sich ursprünglich gewünscht haben, die Schul-, Studien- oder Ausbildungszeit wird verlängert und es entstehen erhebliche Mehrkosten. Noch schlimmer: Mehr als die Hälfte fühlt sich mit der Angst nicht ernstgenommen.
Auch in psychotherapeutischen Praxen steigt die Anzahl der Menschen mit Schwierigkeiten in Lern- und Leistungskontexten. Dabei geht es jedoch nicht nur um Prüfungsängste. Meist ist es ein Gemisch aus unterschiedlichen Themen. Als ich vor 10 Jahren damit begonnen habe, mich mit der systemischen Therapie von Prüfungsängsten zu beschäftigen, gab es dazu fast nichts. Kaum Literatur, auf den großen psychotherapeutischen Kongressen tauchte das Thema nur vereinzelt auf und nur wenige Therapeuten waren darauf spezialisiert. Heute ist die Lage besser, dennoch wird das Thema unterschätzt. Therapie zu Schwierigkeiten in Lern- und Leistungskontexten ist sehr anspruchsvoll.
- Erstens, weil man sich therapeutisch oft von einer falschen Fährt verführen lässt.
- Zweitens, weil in Lern- und Leistungskontexten drei Themen in Wechselwirkung stehen und therapeutisch entscheidend sind.
- Drittens, weil Therapie, Beratung oder Coaching zu diesen Themen oft sehr schnell gehen müssen, weil die nächste Prüfung vor der Tür steht.
Lernschwierigkeiten: Lernen heisst selbst denken
Viele Menschen haben Angst, in einer Prüfung zu versagen. Und viele haben damit leider recht. Denn ihr Wissenstand, ihre Art zu Lernen, reicht nicht aus für die Prüfung. Das Wissen ist gering, die Noten sind schlecht, der Frust ist groß und Angst oft noch größer. Als therapeutisches Anliegen wird jedoch oft Stärkung und Entspannung gewünscht, denn diese Menschen sind emotional sehr belastet. Als Therapeuten sind wir gut darin, Menschen zu stärken und Ressourcen herauszuarbeiten. Wenn man als Therapeut bei unzureichender (Lern) Kompetenz und uneffektiver Prüfungsvorbereitung aber nur Methoden zur Selbststärkung und Entspannung anbietet, fallen die Patient:innen im besten Fall entspannt und ausgeschlafen durch die Prüfung.
Angst und Aufregung: Leichtigkeit, wenn es draufankommt
Wenn Menschen bereits viel gelernt haben und kompetent sind, heißt das noch lange nicht, dass sie dies auch zeigen können, wenn es drauf ankommt. Prüfungen können Selbstzweifel wecken und zu Katastrophengedanken führen. Außerdem führt die Aufregung zu körperlichen Symptomen, welche die Verunsicherung zusätzlich steigert – häufig schon Wochen vor der Prüfung. Die Patient:innen erleben, dass sie, je näher die Prüfung rückt, den Lernstoff nicht mehr gut verstehen und sich nichts merken können aber immer weiter lernen. Viele wünschen sich in dem Moment effektive Lern- und Konzentrationstechniken. Als Therapeut:innen können wir viele Konzentrations- und Fokussierungstechniken anbieten, wir würde damit aber nicht wirklich helfen. Wenn schon viel Wissen aufgebaut wurde, sind Akzeptanz, Leichtigkeit und Gelassenheit oft besser therapeutische Ziele.
Motivation: Wofür lohnt es sich?
Lernprozesse in Schule, Studium und Ausbildung erschaffen die eigene Zukunft. Der Sinn des Lernens liegt vor allem in der Zeit nach der Prüfung, nach der Schule, der Ausbildung oder dem Studium. Es stellt sich die Frage, welchem Sinn dem Lernen gegeben wird. Während sich Studierende und Azubis aktiv für eine berufliche Richtung entscheiden müssen, fehlt bei Schülern dieser Moment der Entscheidung. Bei einer Entscheidung kommt es zu einer inneren Beschäftigung mit der Fragen nach dem Wofür. In unteren Klassenstufen gehen Jungen und Mädchen oft zur Schule, weil ihre Freunde auch dort sind. Wenn in höheren Klassen die Sinn- und Wofür-Frage gestellt wird, ist die Antwort oft noch offen, weil diese Frage ungewohnt ist. Sie zu beantworten war nie nötig. Die therapeutische Arbeit mit Schulverweigerern und bei massiver Prokrastination ist oft eine Arbeit an den individuellen Vorstellungen des eigenen Lebens, des Sinns. Ein therapeutischer Fehler kann dabei sein, die Patienten zu motivieren, ihnen gute Argumente für die Schule, die Ausbildung oder das Studium zu geben und ihnen mit Zeit- und Lernplänen oder Belohnungen das Anfangen zu erleichtern. Dabei nimmt man ihnen aber das Wollen ab. Wollen ist jedoch genau die Kompetenz, die es hier zu finden, zu entwickeln und zu üben gilt. Therapeutisch geht es um die Frage, wie man dem anderen helfen kann, es selbst zu wollen.
Therapie und Beratung bei Prüfungsangst, Lernschwierigkeiten und Motivationsproblemen bedarf zunächst einer sehr saubere Anliegenklärung. Außerdem sollte man den Prozess wirksam steuern können. Denn oft heißt es: Heute Beratung / Therapie / Coaching – Morgen Prüfung!