Kap. 40 des Verunsicherungsbuches von Klaus Eidenschink
Stellen Sie sich vor: Ein Mann geht über eine Wiese und hat eine Schaufel in der Hand. Er bleibt stehen und beginnt ein Loch zu graben. Lang, gründlich, tief. Dann legt er die Schaufel sorgfältig neben das Loch und springt hinein. Unten beginnt er zu rufen und zunehmend zu schreien: „Bitte helft mir. Ich komme nicht aus dem Loch heraus. Hilfe, Hilfe!“ Sie hören das und sind ausgebildeter Coach. Sie beugen sich über das Loch und erörtern mit dem Mann die Lage. Jeder trägt seine besten Lösungen in sich. So erarbeiten Sie mit ihm sein tiefes Bedürfnis aus dem Loch herauszukommen. Sie helfen ihm zu entdecken, dass es Wurzelwerk und Fasern gibt, die sich zu einem dünnen Seil verzwirbeln lassen. Er fasst Mut. So verbessern sich seine Flechtwerkkünste. So hat er nach geraumer Zeit unterschiedlich dicke Seile, die sich an Wurzeln an der Wand verknüpfen lassen. Nach und nach arbeitet er sich auf MacGyver-Art nach oben und erreicht schließlich die Wiese. Er umarmt und bedankt sich herzlich. Sie sind zufrieden mit Ihrer Arbeit und gehen frohgemut weiter. Da drehen Sie sich nochmals um und sehen erstaunt, dass der Mann 50 Meter vom alten Loch entfernt, ein neues gräbt. Inbrünstig und kräftig. Fassungslos beobachten Sie das Geschehen, bis er am Ende in das neue Loch hineinspringt. Die Schaufel lässt er liegen. Sie hören seine Hilferufe.
Kein Mensch würde sagen, dass dieser Mann ein Loch-rauskrabbel-Problem hat. Er hat ein Loch-grab-und-hineinspring-Problem.
Im Coaching kommen viele Klienten mit den Hilferufen aus den selbst erzeugten Löchern. Da ist es verführerisch auf den Hilfewunsch einzugehen, weil die Not und das Ziel so offensichtlich sind. Es ist vollkommen klar, woran man Verbesserungen erkennen kann. Es ist auch klar, wann der Prozess abgeschlossen ist und die Dienstleistung ihr erfolgreiches Ende gefunden hat. Alles, was es braucht, ist zu dem Zeitpunkt zu starten, an dem der Klient sich im Loch fühlt.
Wer vorher anfängt – also bei dem meist unbewussten und latenten Geschehen, wie man sich selbst in die hilfsbedürftige Situation bringt -, der muss die Motive der Persönlichkeitsteile herausarbeiten, die das Loch graben. Diese sind oft tief mit Schuld-, Angst- und Schamprozessen verbunden, hängen an verlorenem Urvertrauen oder basieren auf umfassenden Selbstwahrnehmungsmängeln und Verlorenheit.
Wer nach Lösungen fahndet, die aus dem Loch herausführen, verlängert die Tragik unzureichender Bewältigungsformen schlimmer Lebenserfahrungen. Er perfektioniert frühe Überlebensstrategien und damit Selbstüberforderungen. Die eigentliche Not bleibt außen vor. Die gute Lösung wird zum Make-up der entsetzlichen Wunde, die eigentlich Erforschung und Zuwendung braucht.
Die seelischen Instanzen, die das Loch graben, wollen gar nicht zum Vorschein kommen. Für sie ist das Loch die Lösung und der Kontakt mit anderen scheint ihnen eher gefährlich. Nehmen wir ein Beispiel:
Jemand hat ein inneres Muster ausgebildet, dass Zuwendung und Hilfe im Normalfall nicht zu bekommen ist, es sei denn, es geht einem richtig schlecht. Die Erfahrung mit Liebe, Freude und Stolz ins Leere zu laufen, hat dazu geführt, dass man sich schämt für das, was man Schönes zu bieten hat. In Ermangelung besserer Möglichkeiten lernt man, dass man leidet, krank wird und Nöte hat, um die Aufmerksamkeit und Zuwendung anderer zu bekommen. Darin besteht das Loch-graben.
Nimmt man nun „die Schaufel weg“, dann verschärft man das Problem, weil man damit die Not-Lösung abschaffen würde. Der Schmerz darüber, mit Fröhlichkeit und Unbefangenheit ins Leere gelaufen zu sein, muss ins Erleben kommen dürfen. Der Seelenteil, der diesen Schmerz spürt, ist auch der Zugang zum verborgenen Bedürfnis „Sich zu zeigen“.
Es ist paradox: Die seelische Repräsentanz, die den Schmerz fühlt, ist auch die, die eine andere Lösung finden kann, als Löcher zu graben. Daher braucht genau dieser Seelenteil Kontakt und Begegnung, um wieder Vertrauen zu fassen und damit mit der Lust sich als fröhlicher Mensch zeigen zu wollen, wieder in Berührung zu kommen.
Um wieder dieses Bedürfnis spüren zu können, braucht es Begegnung. Nur in mit und im Kontakt können sich Überlebensmuster ändern, weil das, was durch Alleinsein entstanden ist, nicht allein gelöst werden kann. Wenn man am Schmerz „vorbei“ coachen will, verschwindet der Schmerz noch weiter in den Tiefen der Seele und bleibt dort verschlossen und wirksam, weil das Körper wie Psyche unter Stress setzt. Am Ende speichert der Körper alles und produziert Symptome.
Es geht für Coaches also darum, Prozesskompetenz zu erwerben. Man kann Tools und Vorgehensweisen nicht passend einsetzen, wenn man die Funktion eines problematischen Verhaltens nicht einordnen kann. Dazu muss man dem Klienten primär helfen, ein Problemverhalten in seiner Funktion zu spüren und nicht es kognitiv verstehen zu wollen! Das letztere mag manchmal wichtig sein, doch ohne Erleben ist das nur Wühlen in schlechten Erinnerungen.
Löcher werden gegraben, weil es der Vermeidung von noch Unangenehmeren dient. Wenn diese Motive nicht erlebt und erspürt werden, kommt man überhaupt nicht zu dem Problem, welches dann (!) mit vorwiegend lösungs- und ressourcenorientierten Vorgehensweisen unterstützt werden kann. Man darf die Poliermaschine nicht vor dem Schleifen des Parketts verwenden. Herauszufinden, ob ein bestimmtes Verhalten der Vermeidung von Unangenehmem oder der Bedürfnisregulation dient, ist unerlässlich, wenn man Klienten angemessen unterstützen will.
=> Dieses Kapitel (40) aus dem Verunsicherungsbuch (Warum das Gute auch schlecht ist. Für Coaches und andere Mutige) hat uns Klaus Eidenschink für diesen Blogbeitrag zur Verfügung gestellt (ISBN: 978-3-8497-0570-1).
=> Wer Klaus Eidenschink am wilob erleben möchte: Aktuell bietet er mit Sarah Besel vier verschieden Workshops am wilob an: Arbeiten mit narzisstischen Nöten in Therapie und Coaching – wilob AG; Coaching auf der Basis der Metatheorie der Veränderung – eine Einführung – wilob AG; Arbeit mit destruktiven Selbstrepräsentanzen – wilob AG; https://wilob.ch/seminar/die-kunst-des-konflikts-26/