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Single Session Therapy

Michael F. Hoyt, Ph.D. [2]

SST („Einzelsitzungs-Therapie“) ist eine Therapie, bei der jede Sitzung als einmalige, abgeschlossene Sitzung verstanden wird, in der Erwartung, dass es nur diese einzige therapeutische Sitzung gibt (Talmon, 1990).  Es handelt sich um eine Therapie, die von Anfang an bewusst als eine einzige Sitzung (SST) verstanden wird. Es ist keine Therapie, die immer weiter und weiter gehen könnte und daher entsprechend nach diesem einen Treffen endet. Sie ist als eine einzige Sitzung geplant, und in diesem Sinne konzipiert. Das Grundkonzept besteht darin, jede Begegnung als ein Ganzes zu betrachten, das in sich abgeschlossen ist.

Es existieren viele Belege, dass eine einzige Psychotherapiesitzung die gängigste Behandlungsdauer und dass SST oft wirksam ist. 1990 veröffentlichte Moshe Talmon zusammen mit seinen Kollegen Robert Rosenbaum und Michael Hoyt die erste prospektive SST-Studie, die in einer ambulanten Klinik in Nordkalifornien durchgeführt wurde. Wir fanden heraus, dass die meisten KlientInnen, wenn sie die Wahl hatten, die Therapie in nur einer Sitzung abschließen wollten – selbst wenn mehrere Sitzungen möglich waren – und dass über 80 % der KlientInnen von deutlichen Verbesserungen und Zufriedenheit berichteten. Diese grundlegende Erkenntnis – dass eine Sitzung die gängigste Behandlungsdauer darstellt und häufig wirksam ist – wurde seither in verschiedenen Situationen und Ländern, bei einer Vielzahl klinischer Probleme, mit Einzelpersonen, Paaren, Kindern und Familien wiederholt und erweitert.

Ein Ansatz, der sich besonders gut für die SST eignet, ist die lösungsfokussierte Kurztherapie (SFBT[3]). Für Steve de Shazer war die ideale Anzahl von Therapiesitzungen „nicht eine einzige mehr als nötig“, und er sagte oft, er gehe in jede Sitzung, als ob sie die einzige wäre. Das macht durchaus Sinn, wenn man bedenkt, dass ein klares Ziel für die Sitzung („wenn ein Wunder geschieht“ oder „ihre besten Hoffnungen“) die KlientInnen stärkt durch das Hervorheben von Fähigkeiten („was funktioniert hat“) und der Betonung der Effizienz sowohl für SST als auch für SFBT kennzeichnend sind. Mein Lieblingszitat für SFBT stammt von Chris Iveson (2019) von der BRIEF-Gruppe in London: „Meine professionelle Welt, die Welt lösungsfokussierter Kurztherapie, ist eine verkehrte Welt, in der der Erfolg immer vom Vertrauen abhängt – aber davon, dass die TherapeutIn der KlientIn (ver-) traut und nicht umgekehrt [….]. Wir vertreten die radikale Position, dass wir für unsere KlientIn nicht den „richtigen“ Weg kennen (oder vorschreiben) können, sondern dass wir ihrem Wissen vertrauen und sie als einzige ExpertIn für ihr eigenes Leben begreifen müssen.“

Leider gibt es verschiedene Hindernisse, eine solche Sichtweise umzusetzen. Manchmal bestehen für KlinikerInnen finanzielle Anreize, die Therapie so lang (und nicht so effizient) wie möglich zu gestalten. Hinzu kommt die pathologische Voreingenommenheit der meisten Therapieausbildungen. In einem veröffentlichten Interview, das wir gemeinsam geführt haben (siehe Hoyt, 1994/2001a), stellten de Shazer und Weakland fest, dass die meisten KlinikerInnen als Fachleute für psychische Krankheit und nicht als Fachleute für psychische Gesundheit arbeiten! Ein wesentliches Problem ist die derzeitige „Diagnosekultur“, die vielerorts praktiziert wird. Ohne Krankheitsdiagnose zahlen die Krankenkassen unter Umständen nicht. In einigen Einrichtungen ist eine „Kurztherapie“ ohne vollständige Diagnosespezifikation zulässig, und einige KlientInnen und TherapeutInnen verzichten auf die Inanspruchnahme der Versicherung, um ihre Unabhängigkeit und Privatsphäre zu wahren. de Shazer empfahl (siehe Hoyt, 1996/2001b) in Fällen, in denen eine Diagnose erforderlich ist, entweder diesen Teil des Gesprächs von einer anderen Person durchführen zu lassen oder der TherapeutIn zu empfehlen, während des diagnostischen Teils einen „weißen Kittel“ zu tragen und ihn danach abzulegen (oder auf einen anderen Stuhl zu wechseln), um zu signalisieren: „Jetzt machen wir die Therapie.“ Manche PraktikerInnen machen sich Sorgen, vielleicht etwas zu „übersehen“, obwohl ein Fragebogen-Item (siehe Bobele & Slive, 2021) wie „Haben Sie jetzt oder hatten Sie in der Vergangenheit Befürchtungen, dass Sie (oder Ihr Kind oder jemand, der bei Ihnen ist) Gefahr laufen, sich selbst, anderen oder Haustieren Schaden zuzufügen?“ verwendet werden kann, um festzustellen, ob eine weitere Exploration von Risikofaktoren angezeigt ist.

Viele so genannte „Langzeittherapien“ sind nur eine Reihe von Fehlern, die sich immer wiederholen: Fehlen eines klaren, erreichbaren Ziels, fehlender Zugang zu Ressourcen, zweifelhafte Motivation. In seinem Vorwort zu Talmons (1990) Single Session Therapy schreibt der Psychiater Jerome Frank darüber, wie Menschen, die in einer Sitzung Veränderungen herbeiführen, viele Annahmen der TherapeutInnen in Frage stellen: die Überzeugung, dass man langsam und allmählich eine Allianz eingehen muss, dass man langsam und allmählich die zugrundeliegenden Schemata oder Neurosen aufdecken muss, dass man dann langsam und allmählich alles weiter durcharbeiten muss, weil es sonst zu viel Widerstand geben wird. Wenn die Dinge relativ schnell passieren, ist es für die ForscherInnen eine interessante Frage, was tatsächlich passiert ist, denn es kann sich dann nicht um einen langsamen und allmählichen Durcharbeitungsprozess handeln; etwas hat sich ja schneller verändert. 

Meines Erachtens (Hoyt, 2017) findet effektive Therapie in einem „Kontext der Kompetenz“ statt, in dem Ziele und Ressourcen der KlientIn über die therapeutische Allianz zusammengeführt werden. Es gibt verschiedene Aufgaben und Fragen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten während einer Sitzung gestellt werden. Diese begünstigen eine effektive Therapie, sowohl in einer Sitzung wie auch in mehreren. Paare suchen oft nach einer pragmatischen und einfachen Lösung für das Problem, das sie zur Therapie geführt hat, und die Umstellung auf „eine einzige Sitzung/nur ein Mal“ kann eine Änderung der Denkweise in Richtung „Unterschied, der einen Unterschied macht“ erfordern (siehe Hoyt & Berg, 2000; Söderquist et al., 2018).

Zugang (rasche Erreichbarkeit) und Finanzierbarkeit ist auch eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, was gerade in der heutigen Zeit besonders wichtig ist, da viel mehr Menschen von psychosozialen Diensten profitieren würden, wären diese erschwinglich und nicht mit dem oft entmutigenden Stigma einer scheinbar endlosen Abhängigkeit behaftet. In einigen Ländern wurden verwaltungstechnische Vorkehrungen getroffen, so dass SST, die ohne Voranmeldung[4] durchgeführt werden (bzw. Click-in oder Call-in), immer beliebter werden (Bobele & Slive, 2021). Die Ressourcen sind begrenzt, und SST – nach Terminvereinbarung oder ohne Voranmeldung (walk in)- hat eine wertvolle ökologische Funktion: sie spart Zeit und Geld. Mehr ist nicht besser, sondern besser ist besser – und besser kann manchmal im Hier und Jetzt erreicht werden, selbst in einem einzigen Gespräch.

Bleiben Sie dran: Bisher haben drei internationale SST-Konferenzen stattgefunden, aus denen die Bücher von Hoyt und Talmon (2014), Hoyt, Bobele, Slive, Young, & Talmon (2018) sowie Hoyt, Young, & Rycroft (2021) hervorgegangen sind. Klientinnen und Klienten, Klinikerinnen und Kliniker, Managerinnen und Manager, politische Entscheidungsträgerinnen und -träger sowie Geldgeberinnen und -geber sind alle an den Vorteilen von SST interessiert. Um dieser Herausforderung gerecht zu werden, bedarf es spezifischer Fähigkeiten und einer Orientierung, die auf einer umfassenderen Anerkennung der Kräfte der Sprache und der Vorstellungskraft sowie auf den Grundsätzen der Fürsorge, der Zusammenarbeit und des Respekts vor den Kompetenzen der KlientInnen beruht. Wir freuen uns auf die deutsche Übersetzung dieser Publikationen und auf SST-Workshops in Deutschland!

Literatur

Bobele, M., & Slive, A. (2021). An open invitation to walk-in therapy: Opening access to mental health care. In M.F. Hoyt, J. Young, & P. Rycroft (Eds Single Session Thinking and Practice in Global, Cultural, and Familial Contexts: Expanding Applications (S. 54-65). New York: Routledge.

Frank, J.D. (1990). Foreword. In M. Talmon, Single Session Therapy (S. XI-XIII). San Francisco, CA: Jossey-Bass.

Hoyt, M.F. (2001a). On the importance of keeping it simple and taking the patient seriously: A conversation with Steve de Shazer and John Weakland. In M.F. Hoyt, Interviews with Brief Therapy Experts (S. 133). New York: Brunner-Routledge. (work originally published 1994)

Hoyt, M.F. (2001b). Solution building and language games: A conversation with Steve de Shazer (and some after words with Insoo Kim Berg).  In Interviews with Brief Therapy Experts (S. 158-183). New York: Brunner-Routledge.

Hoyt, M.F. (2017). Brief Therapy and Beyond: Stories, Language, Love, Hope, and Time. New York: Routledge.

Hoyt, M.F., & Berg, I.K. (2000). Solution-focused couple therapy: Helping clients construct self-fulfilling prophecies. In M.F. Hoyt, Some Stories Are Better than Others (S. 143-166). Philadelphia: Brunner/Mazel.

Hoyt, M.F., Bobele, M., Slive, A., Young, J., & Talmon, M. (Eds.) (2018). Single-Session Therapy by Walk-In or Appointment: Administrative, Clinical, and Supervisory Aspects of One-At-a-Time Services. New York: Routledge.

Hoyt, M.F., & Talmon, M. (Eds.). (2014). Capturing the Moment: Single Session Therapy and Walk-In Services. Bethel, CT: Crown House Publishing.

Hoyt, M.F., Young, J., & Rycroft, P. (Eds.) (2021). Single Session Thinking and Practice in Global, Cultural, and Familial Contexts: Expanding Applications. New York: Routledge.

Iveson, C. (2019). However great the question, it’s the answer that makes a difference. In M.F. Hoyt & M. Bobele (Eds.), Creative Therapy in Challenging Situations: Unusual Interventions to Help Clients (S. 121-133). New York: Routledge.

Söderquist, M., Cronholm-Nouicer, M., Dannerup, L., & Wulff, K. (2021). Making the leap with couples in Sweden: One-at-a-time mindset in action. In M.F. Hoyt et al. (Eds.), Single Session Thinking and Practice in Global, Cultural, and Familial Contexts: Expanding Applications (S. 163-172). New York: Routledge.

Talmon, M. (1990). Single Session Therapy: Maximizing the Effect of the First (and Often Only) Therapeutic Encounter. San Francisco: Jossey-Bass.

Wichtiger Hinweis

Das Buch von Hoyt, M.F., Young, J. & Rycroft, P. (Eds.) (2021). Single Session Thinking and Practice in Global, Cultural, and Familial Contexts: Expanding Applications. New York: Routledge wird möglicherweise im Carl-Auer-Systeme-Verlag erscheinen, voraussichtlich 2022 oder 2023.

Ein deutscher Titel steht noch nicht fest, was nicht verwundert, denn der Begriff Single Session Therapy – SST  ist im deutschen noch weitgehend unbekannt und beschränkt sich zweifellos nicht nur auf Therapie. Entsprechendes gilt auch für den Begriff Walk-In Therapy, ein Vorgehen, das in diesem Buch ebenfalls thematisiert und beschrieben wird.


[1] Wir haben den Originalbegriff beibehalten, denn eine “flüssige” deutschsprachige Begrifflichkeit  steht noch aus. Die Übersetzung Therapie in einer Sitzung erscheint uns ein wenig “suboptimal”.

[2] Michael Hoyt, Psychologe aus Mill Valley, Kalifornien. Kontakt: drmhoyt@comcast.net

[3] solution focused brief therapy

[4] Dieses Vorgehen wird in Fachzeitschriften unter dem Begriff “Walk In” beschrieben.

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